Schritt 1: Fokus und Anknüpfungspunkt finden

Im ersten Schritt des Planungsprozesses Eurer Narrative-Change-Kampagne liegt der Schwerpunkt auf der Entwicklung einer Kampagnenstrategie. Es werden ein narrativer Fokus sowie ein Anknüpfungspunkt bzw. eine Gelegenheit identifiziert, die Eure Zielgruppe in der Mitte anspricht und einbindet.


Abbildung 1: Der fünfstufige Planungsprozess einer Narrative-Change-Kampagne

 

Bevor Ihr mit diesem Schritt beginnt, sollten folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Ihr bzw. Eure Organisation oder Euer Bündnis habt beschlossen, eine Kampagne zu entwickeln, um das mittlere Segment/die mittleren Segmente der Öffentlichkeit anzusprechen und in die Migrationsdebatte einzubeziehen;
  • Ihr seid auf der Suche nach einem Weg, diese Segmente effektiv und emotional intelligent anzusprechen und an der Debatte zu beteiligen.

Die fünf Elemente dieses Planungsschrittes für die Kampagne lauten:

 

 
Fokus und Anknüpfungspunkt finden 
 
  Element Detail
1 Konzentration auf mittleres Segment/mittlere Segmente & aktuelle Frames/Positionen
Identifiziert einen bestimmten Ausschnitt der Mitte sowie ihre Frames und Positionen in der Debatte, um diesen an der Kampagne zu beteiligen.
2 Positive Wertekarte
Skizziert die positiven Werte, die die Zielgruppe(n) selbst durch ihre Ansichten/Positionen fördern bzw. verteidigen will/wollen.
3 Narrativer Raum für Eure Kampagne  Identifiziert eine Schnittstelle zwischen den Werten des Zielsegments und dem Werteraum/narrativen Raum, in dem Ihr bereit seid zu kommunizieren.
4 Gelegenheit oder Anknüpfungspunkt Sucht eine bevorstehende Veranstaltung, Debatte oder Gelegenheit, die es ermöglicht, sich bei dem/den Zielsegment(en) aus der Mitte Gehör zu verschaffen und diese anzusprechen.
5 Erreichbare Kampagnenziele Entwickelt eine Reihe von erreichbaren Zielen für Eure Kampagne.

 

Geht die Elemente durch: Am Anfang steht das Verständnis, wer zur anvisierten Mitte gehört und welche Argumente, Positionen und Werte diese in der Migrationsdebatte hat. Auf dieser Grundlage identifiziert Ihr als nächstes einen Raum für Eure Botschaft(en) und eine Veranstaltung oder Debatte, die sich eignet, um eine Verbindung zur Zielgruppe aus der Mitte für die Kampagne herzustellen. Dieser aktuelle Anlass sollte gut zu Eurer Organisation oder Eurem Bündnis passen. Das ist die Schlüsselentscheidung für die Entwicklung einer Kampagnenstrategie und die Brücke zum Abschluss des ersten Schrittes durch Festlegung einer Reihe von Kampagnenzielen.

Eine wichtige Orientierung für diesen Schritt ist das Verständnis der Zielgruppe – die bewegliche Mitte – für Kampagnen, sodass wir mit der Beschreibung dieser Gruppe beginnen, bevor wir zu den mit diesem Schritt einhergehenden Aufgaben kommen.


Wer ist die bewegliche Mitte?

Die Mitglieder der beweglichen Mitte lassen sich wie folgt charakterisieren: Ihre direkte Beteiligung an Migrationsfragen ist nicht besonders stark, sie haben Bedenken wegen der wachsenden Ungleichheit und sind anfällig für populistisches Gedankengut und eine entsprechende Rhetorik. Um diese Eigenschaften weiter zu konkretisieren und ein tieferes Verständnis der Mitte zu bekommen, ist das folgende Zitat hilfreich: „Die meisten Menschen befassen sich nicht ständig mit den meisten Problemen“1 . Wie bereits in Abschnitt 1 erwähnt, gibt es in vielen Migrationsdebatten europaweit in der Regel nur eine relativ geringe Zahl von Menschen, die starke Befürworter*innen oder starke Gegner*innen von Migration sind (oft jeweils ca. 15 Prozent). Der größere Anteil von etwa 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung, der als Mitte bezeichnet wird, besteht aus Menschen, die folgende Merkmale aufweisen2 :

  • Sie haben keine besonders starke Meinung zu diesem Thema.
  • Sie sind nicht besonders engagiert oder sachkundig in der Debatte.
  • Sie können positive Ansichten zur Migration äußern, wenn sie Erfahrungen mit migrantischen Gruppen gesammelt und gute persönliche Erfahrungen mit Migrant*innen gemacht haben.
  • Sie können recht pragmatische Ansichten über den Bedarf nach weiterer Migration vertreten.
  • Sie machen sich Sorgen um ihre wirtschaftliche Sicherheit oder Zukunft und die ihrer Kinder.
  • Sie sprechen oft darüber, wie und was ihre Gemeinschaften in den letzten 30 bis 40 Jahren in Bezug auf Beschäftigung, Wohnen und politischer Repräsentation verloren haben.
  • Sie sehnen sich oft nostalgisch nach einem vergangenen "goldenen Zeitalter".
  • Sie sind darüber besorgt, dass sich die Kultur zu schnell verändert und gemeinschaftlichen Bindungen an Kraft verlieren.
  • Sie werden von den Meinungen der Mainstream-Medien beeinflusst.

Neben „beweglich“ werden in der folgenden Abbildung weitere Adjektive zur Charakterisierung dieser Gruppe aufgeführt: „ängstlich“, „widersprüchlich“ und sogar von der „weichlichen Mitte“ ist die Rede. In jüngster Zeit haben British Future und HOPE not hate diese Gruppe als ‘balancers’3 , (im Sinne von „Ausgleicher*innen“) bezeichnet, da sie in dieser Debatte das Zünglein an der Waage sein können. “Ängstlich" impliziert auch den Wunsch, dass Bedenken ausgeräumt werden, und derartige Situationen haben sich als fruchtbarer Boden für Populist*innen erwiesen, die die Schuld für solche legitimen Sorgen auf ein Thema reduzieren: Migration. Fortschrittliche Kräfte müssen daher dieses Segment besser einbeziehen. Unsere Entscheidung, uns auf das Adjektiv "beweglich" zu konzentrieren, bezieht sich sowohl auf die Gelegenheit als auch auf die Notwendigkeit, eine Änderung der Meinungen der Mitte zu diesem Thema herbeizuführen.

 

Abbildung 2: Gängige Bezeichnungen für die mittleren Segmente

ängstliche
weiche
hin- und hergerissen
bewegliche

Mitte


Im Rahmen eines Message-Testing, welches wir im Juni 2018 als Teil des Narrative Change Lab durchführten, wurde dieses Bewegungspotenzial sehr deutlich. Bei der Veranstaltung testeten wir zwei Kampagnen aus Deutschland mit Fokusgruppen aus den mittleren Segmenten: Resonante Botschaften, die an Grundwerte appellierten oder Empathie in der Gruppe hervorriefen, führten schnell zu einer Aufweichung der anfangs geäußerten skeptischen Positionen. Wie bereits in der Einleitung erläutert, stellt die Existenz einer derartig großen Mitte der Gesellschaft ein Potenzial dar, das in den bisherigen progressiven Meinungsbildungskampagnen oft ungenutzt bleibt. Die Forschungsergebnisse, auf die sich unsere Arbeit stützt, zeigen, dass es in vielen Ländern eine große bewegliche Mitte gibt. So liegt deren Anteil in Frankreich4  und Deutschland5  beispielsweise bei etwa 50 bis 60 Prozent:


Abbildung 3: Frankreich: Humanitäre, wirtschaftlich unsichere und zurückgelassene Menschen bilden die mittleren Segmente.
Identitäre Nationalist*innen 17%
Zurück Gelassene 21%
Wirtschaftlich Unsichere 17%
Humanitäre 15%
Multikulturelle 30%

Abbildung 4: Deutschland: Wirtschaftspragmatiker*innen, humanitäre Skeptiker*innen und gemäßigte Gegner*innen bilden die mittleren Segmente.

Um die Sorgen der beweglichen Mitte besser zu verstehen, sind die vielen Studien, die in jüngster Zeit zu Themen der "Zurückgelassenen", "vergessenen Bevölkerungsgruppen"6 oder der sogenannten "weißen Arbeiterklasse"7 durchgeführt wurden, aufschlussreich. Die Open Society Foundations hat eine groß angelegte Studie über diese Bevölkerungssegmente8 durchgeführt, die dazugehörigen Videos geben einen guten Einblick in diese Themen: 

 

  • How Inequality Affects White Working Class Communities in Europe (Wie sich Ungleichheit auf die weiße Arbeiterklasse in Europa auswirkt)

 

 

  • Voices from Manchester: Angela Mannion (Stimmen aus Manchester: Angela Mannion)

 

 

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