Warum ein Reframing-Ansatz?

Wie kann dieses Toolkit Aktivist*innen in der Migrationsdebatte unterstützen?

Dieses Toolkit richtet sich an progressive Kampagnen-Macher*innen und Aktivist*innen, welche die Mitte der Gesellschaft besser ansprechen wollen: Denn gerade hier gewinnen populistische Narrative und Argumente immer mehr an Raum. Umso mehr gilt es, Diversität und Inklusion als Themen wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Allerdings ist bekannt, dass die üblichen Ansätze, die sich meist darin erschöpfen nur mit Fakten und Rechten zu argumentieren, wenig hilfreich sind. Gerade weil europaweit Populist*innen den Ton der Migrationsdebatte zu bestimmen drohen, brauchen wir neue Wege für eine ausgewogenere Debatte. Hier setzt das Toolkit an, das im Rahmen des ICPA-Projekts „Reframe the debate! Neue Migrationsnarrative für konstruktiven Dialog“ (2017-2019) entwickelt wurde, gefördert im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Social Change Initiative. Die ersten Recherche- und Entwicklungsschritte wurden freundlicherweise von der Open Society Foundation für Europa (OSIFE) unterstützt, unser Reframing Video von der OSIFE und der Robert Bosch Stiftung.

Europa steht im Fokus der Leitlinien aus dem Toolkit mit einem besonderen Schwerpunkt auf Deutschland und Großbritannien, da wir in diesen beiden Ländern die meisten praktischen Erfahrungen gesammelt haben. Wir greifen jedoch auch auf Erkenntnisse aus den USA und der globalen Ebene zurück – da wir sehen, dass die narrativen Herausforderungen in der Debatte oft sehr ähnlich sind, hoffen wir, dass das Toolkit nützliche Erkenntnisse für die Entwicklung vieler Kampagnen gibt.
 

Die Herausforderung

 

Populistische Narrative gewinnen in der Mainstream-Migrationsdebatte an Boden und beginnen, die Grenzen akzeptabler politischer Entscheidungen zu bestimmen.

In der Migrationsdebatte Europas wird zunehmend polarisiert. Mehr und mehr Mainstream-Politiker*innen beziehen keine klare Stellung zu Menschlichkeit und Anstand, die angesichts dieser Entwicklung nötig wäre, oder übernehmen gar „Othering“-Narrative, in denen Geflüchtete und Migrant*innen zum Sündenbock für größere (tatsächliche und vermeintliche) gesellschaftliche Probleme gemacht werden1 . Dieses Mainstreaming eines Anti-Migrationsdiskurses bedeutet eine Gefahr für progressive Werte, denn das öffentliche Narrativ bestimmt die Grenzen für politisch „akzeptable“ Entscheidungen2 . WWenn also die einzige Erzählung über Migration von Bedrohung, Chaos und Invasion handelt, dann werden die einzigen Lösungen Sicherheit, Zäune und Ausgrenzung lauten. Umso wichtiger ist es, dass wir einen Weg finden, Werte und Frames von Diversität und Inklusion in die Debatte einzubringen.
 

Die progressiven Standardantworten verfehlen das Ziel und bekommen wütende Reaktionen.

Migrationsbefürworter*innen sind sich dieser Herausforderung bewusst. Aber genau deswegen neigen sie oft dazu, rational zu argumentieren. Ihre Arbeit beruht darauf, Fakten und Rechte in den Vordergrund zu stellen und Gerüchte zu entkräften. Eben dieser Ansatz findet in der breiten Öffentlichkeit aber so gut wie keine Resonanz. Tatsächlich ernten Aktivist*innen oft ablehnende oder wütende Reaktionen. Einige von ihnen berichten, dass eine solche Herangehensweise arrogant oder oberlehrerhaft wirke: Das Publikum hat den Eindruck, es würde als dumm oder gar rassistisch gesehen3 . Entsprechend aggressiv fällt das Echo oft aus. Angesichts einer solchen Resonanz in der öffentlichen Debatte ziehen sich viele Aktivist*innen verständlicherweise aus dem Diskurs zurück, da sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen. In der Folge schränken sie ihr Engagement ein, werden selbst verbittert und richten sich nur noch an diejenigen, die ohnehin schon überzeugt sind.


Abbildung 1 – Wütende Reaktionen auf den Standard-Ansatz (British Future 2014)
1. "Viele Menschen sind falsch informiert und kennen die Fakten nicht".
2. "Dieser Mensch denkt, dass ich dumm bin. Ich verstehe, was er sagt – ich bin einfach nicht damit einverstanden".

 

Progressive sehen häufig alle außerhalb ihrer eigenen Gruppe als “Gegner*innen”.

Progressive neigen dazu, jene außerhalb ihrer urbanen, liberalen Unterstützer*innen-Gruppe in einem eher negativen Licht zu sehen. Im breiten Spektrum derjenigen, die sich fernab der lautstarken Unterstützer*innen bewegen, gibt es allerdings ein großes Bevölkerungssegment, das weder besonders involviert, sachkundig oder offen interessiert an derartigen Debatten ist. Gleichzeitig ist dieses Segment nervös und kann durch die Ängste, die Populist*innen schüren, motiviert werden. Diese Gruppe wird oft die „bewegliche“ oder „ängstliche“ Mitte genannt und sollte ein Ziel von Aktivist*innen sein, denn sie können überzeugt und mobilisiert werden, sich auch gegen populistische Mainstreaming-Prozesse zu stellen.

 

Was können wir tun?

 

 

Wir brauchen neue Kampagnen, um die Debatte in eine andere Richtung zu lenken und die Öffentlichkeit abzuholen.

Der zentrale Grundstein dieses Toolkits basiert auf etablierten Theorien und internationalen praktischen Erfahrungen mit Narrative-Change-Kampagnen, die auf dem „Reframing“-Ansatz aufbauen. In emotional aufgeladenen Diskussionen wie der aktuellen Migrationsdebatte werden die Werte, Sorgen und persönlichen Geschichten von Interessensvertreter*innen zu einem wichtigen Einstieg in einen echten Dialog4 . Ohne einen solchen Dialog, der möglichst viele Menschen zu Wort kommen lässt und miteinbezieht, wird sich die Debatte nicht verändern lassen. Ein derartiger emotional kluger Narrative-Change-/Reframing-Ansatz umfasst die folgenden Elemente:

  • Anerkennung der berechtigten Sorgen des Zielpublikums
  • Aufbau der Kampagne auf gemeinsamen, positiven, vereinenden Werten
  • Konzentration auf das Emotionale, Erzählung von Geschichten, die auf Erfahrungen basieren, Schaffung einer warmen und positiven Atmosphäre, die das Publikum einnimmt, sich für das Publikum vernünftig anfühlt und letztendlich mehr das Herz als den Kopf anspricht5 ;
  • Start mit positiven, lösungsorientierten, resonierenden Botschaften, die das Publikum miteinbeziehen und ein warmes, vertrautes Gefühl aufbauen; im Anschluss Erweiterung um ein Element, welches das Publikum herausfordert, nachzudenken, indem man zu Beispiel ein Element der Dissonanz hinzufügt. Das ist der Anknüpfungspunkt, den ein solcher Ansatz schafft.
  • Zuhören und offene Fragen in einer vernünftigen und zivilen Weise stellen, welche einen konstruktiven Dialog über die Probleme erlauben und einen Raum für die klare Verteidigung progressiver Positionen schaffen

Die Stärke eines Reframing-Ansatzes liegt darin, dass Ihr Eure Appelle auf Geschichten und Werten aufbaut, die auf Gemeinschaft basieren und leicht Anklang finden. Das ist der Startpunkt, von dem aus man über einen offenen und inklusiven Prozess des gegenseitigen Zuhörens populistische Positionen nachdrücklich herausfordern kann.
 

Fokus auf Gruppen, die wir in der Debatte für uns gewinnen können: die bewegliche Mitte

Aktivist*innen müssen beim Einsatz des Reframing-Ansatzes strategisch vorgehen, indem sie sich auf eine Gruppe konzentrieren, die sie tatsächlich für sich gewinnen können, und zwar in einer Größenordnung, die in der öffentlichen Diskussion den Ausschlag geben kann. Deswegen fokussieren wir uns in unserem Toolkit auf die sogenannte „bewegliche Mitte“. In den meisten europäischen Ländern macht diese 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung aus. Eine große Gruppe, die nicht involviert, informiert oder mit den Problemen beschäftigt ist, aber empfänglich für das Programm von Mainstream-Medien und damit beweglich ist.
Dies bedeutet natürlich auch eine wesentlich komplexere Sicht auf diejenigen, die außerhalb unserer Unterstützer*innen-Gruppen stehen, und die Bereitschaft, eben jene mit unseren Kampagnen anzusprechen. Dieser Ansatz mag nicht für alle passen. Aber das Minimum, das benötigt wird, ist ein Verständnis für und die Unterstützung derer, die sich für diesen Weg entscheiden, sowie die Erkenntnis, dass dies ein wesentlicher Teil des Kampfes ist.

Beide/und, NICHT entweder/oder: Wir müssen die Mitte UND andere Segmente teilhaben lassen!

Eine Warnung: Obschon wir uns dafür einsetzen, die Mitte besser teilhaben zu lassen, bedeutet dies nicht, dass Aktivist*innen die Ansprache anderer Segmente aufgeben sollten. Unsere Botschaft lautet also, dass wir AUCH die Mitte einbeziehen müssen. Für eine einzelne Organisation mag das eine Herausforderung darstellen, aber die Arbeit in einem Bündnis und/oder die Analyse dessen, was Verbündete machen, ist eine gute Möglichkeit, herauszufinden, welcher Weg zu Euch passt. Frank Sharry von America’s Voice (aber auch andere Quellen6 ) ssagen, dass sich Taktiken auf folgende Weise auf das ganze Meinungsspektrum fokussieren müssen:

  • Arbeitet daran, die Basis/Eure Unterstützer*innen zu stärken („Empowerment“)
  • Lasst die Mitte teilhaben.
  • Definiert und marginalisiert starke Gegner*innen7 .
     

Ein strategischer Kommunikationsansatz ist nötig, um die Grenzen des öffentlichen Narrativs neu zu setzen

Während unser Fokus im Toolkit darauf liegt, einzelne Kampagnen zu entwickeln, stellt sich oft die Frage, wie viel wir von einer solchen einzelnen Kampagne erwarten können. Die einfache Antwort lautet: Nicht genug, wenn es unser Ziel ist, eine viel breitere Debatte über eine kontroverse Frage zu führen bzw. in eine neue Richtung zu lenken. Im Hinblick auf realistische Ergebnisse gibt es einen klaren Bedarf dafür, dass Kampagnenarbeit über einen langen Zeitraum fortgesetzt, stärker und lauter wird. Ein derartiger Ansatz wird strategische Kommunikation genannt. Die Idee dabei ist, um noch einmal Frank Sharry zu zitieren, einen „Surround Sound“ für Eure Botschaften zu schaffen – wie auch „Lautstärke und Geschwindigkeit“, um wirklich etwas zu erreichen.

 

Was beinhaltet das Toolkit?

 

Ein zentraler Teil unserer Arbeit seit 2017 ist die direkte Unterstützung progressiver Aktivist*innen bei der Entwicklung von Narrative-Change-Kampagnen. Dieses Toolkit basiert auf den Erfahrungen, die wir dabei in Deutschland gemacht haben, und denen von internationalen Partner*innen und Aktivist*innen. Das Toolkit bietet Schritt für Schritt praktische Kampagnenratschläge, Fallbeispiele und Werkzeuge, um vielen Gleichgesinnten dabei zu helfen und sie zu inspirieren, Kampagnen zu entwickeln oder zu unterstützen – Kampagnen, die das unerschlossene Potential nutzen, das darin besteht, Meinungen der Mitte in die Migrationsdebatte einzubeziehen und neu zu gestalten.
 
Das Toolkit basiert auf einer multidisziplinären Sichtweise von Öffentlichkeitsarbeit, Framing und Agenda Setting aus den Bereichen politischer Kommunikation8 , Verhaltensökonomie9 , kognitiver Linguistik10 , Sozialpsychologie11  and Verhandlungstechniken12 . Der Hauptfokus liegt allerdings darauf, wie Erkenntnisse aus diesen Feldern praktisch in internationalen Migrationskampagnen angewandt wurden13

Das Toolkit bietet:

Warum ein Reframing-Ansatz?
Begründung und Überblick zum Kampagnen-Ansatz Praktische Anleitungen für die schrittweise Kampagnenentwicklung, basierend auf dem Planungsprozess von Narrative-Change-Kampagnen sowie realer Fallbeispiele. Dokumentation der Praxis mit einem Überblick der Fallbeispiele, die wir bei der Entwicklung des Toolkits herangezogen haben, und einer späteren Vertiefung
Kernressourcen
Unterteilung der zentralen Kampagnenlektionen in „12 Schlüssel“, um die Basis des Narrative-Change-/Reframing-Ansatzes zu verstehen Planungsinstrumente, Arbeitsblätter und Ressourcen, die in den verschiedenen Phasen des der Kampagnenplanung gebraucht werden Wir nehmen uns der großen Fragen an, die sich stellen, wenn man einen Narrative-Change-/Reframing-Ansatz verfolgt.

 

Ihr könnt das Toolkit nutzen, um spezifische Fragen zu beantworten oder um die Elemente, Ansätze und Praktiken des Narrative-Change-Ansatzes zu verstehen. Oder Ihr habt den Ehrgeiz, den Schritt-für-Schritt-Anleitungen zu folgen, die in den Leitlinien beschrieben sind, um eine ganze Kampagne zu entwickeln.