2.2 Geschichten

Der zweite Schritt des Planungsprozesses der Narrative-Change-Kampagnen - Ausbau der Elemente - besteht aus acht Elementen, die Euch durch die Entwicklung der Kampagnentools und -ansätze führen. Auf dieser Seite konzentrieren wir uns auf das zweite Element: Geschichten.

AUSBAU DER ELEMENTE
Elemente
  1. Botschaften
  2. Geschichten
  3. Slogans & Hashtags
  4. Belege
  5. Bildmaterial
  6. Messenger & Unterstützer*innen
  7. Forum/Publikation
  8. Aktionsplan

 

Auch wenn die Elemente in der Tabelle als aufeinander aufbauende Abfolge dargestellt sind, werdet Ihr in der Realität in der Ausbauphase Eurer Kampagne häufig zwischen den verschiedenen Schritten hin- und herwechseln.

Der Fokus im zweiten Element des Ausbauprozesses liegt auf der Humanisierung und Authentifizierung von Botschaften auf eine ansprechende und einprägsame Weise: durch Geschichten. Tatsächlich ist dies bei einer Narrative-Change-Kampagne eine zentrale Säule für ihr Gelingen, da gute Geschichten Menschen anziehen, sodass sie sich an sie erinnern. Dabei geht es um drei Hauptaufgaben:
 

Entwickelt Geschichten, die Eure Botschaften unterstützen und leicht nacherzählt werden können.

Ein wichtiges Element der Kampagnenentwicklung ist die Generierung oder Identifizierung von Geschichten, die die Botschaft(en) der Kampagne veranschaulichen sowie unterstützen und die im Rahmen der Kampagne leicht ausgetauscht und weitergegeben werden können. Wenn Ihr versucht, einen breiteren Standpunkt zu Themen oder Werten einzunehmen, wird oft die Geschichte einer Person, einer Gemeinschaft oder Stadt benötigt, um die Herausforderung und die Auswirkungen des Themas zu vermenschlichen oder die emotionale Distanz zwischen Redner*in und Zielgruppe zu "verkürzen"1 . Die Entwicklung dieser Geschichten in einer einnehmenden und einprägsamen Weise ist der Schlüssel zum Erfolg, da sie oft der Teil der Kampagne sind, an den sich die Adressat*innen erinnern und den sie weitergeben werden. Die Pressemitteilung von British Future für die Mohnblumen-Hijab-Kampagne beschreibt die Geschichte eines Soldaten, die im Mittelpunkt der Kampagne stand:
 

FALLBEISPIEL 1 - Mohnblumen-Hijab-Kampagne – British Future – Großbritannien
 
Um die Botschaft zu untermauern und zu verdeutlichen, dass 400.000 Muslime im Ersten Weltkrieg ihr Leben im Kampf ließen, berief sich British Future auf die Geschichte von Khudadad Khan:
 
"Vor genau einhundert Jahren, am 31. Oktober 1914, erhielt Sepoy Khudadad Khan vom 129. Baluchi Regiment als erster indischer Soldat die höchste Auszeichnung dieses Landes für Tapferkeit: das Victoria-Kreuz.
 
Khans Regiment unterstützte die britische Expeditionstruppe, um die Einnahme wichtiger Häfen in Frankreich und Belgien durch die deutschen Truppen zu verhindern. Als die Linie zurückgedrängt wurde, hielt der Maschinengewehrschütze, obwohl schwer verwundet und zahlenmäßig massiv unterlegen, den deutschen Vormarsch lange genug auf, damit indische und britische Verstärkungskräfte eintreffen und verhindern konnten, dass der Feind den endgültigen Durchbruch erzielte. Er war der einzige Überlebende seines Teams.
 
Der Erste Weltkrieg brachte Soldaten aus dem gesamten Reich und dem Commonwealth zusammen, um für Großbritannien zu kämpfen. Geboren im heutigen Pakistan, war Khan nur einer der insgesamt 1,2 Millionen indischen Soldaten und der 400.000 Muslime, die im Jahr 1914 neben den britischen Truppen kämpften.
Heute ist es wichtig, dass alle unsere Kinder diese gemeinsame Geschichte kennen, eine Geschichte von Mitwirkung und Opfern, damit wir unser heutiges, multiethnisches Großbritannien umfassend verstehen.
 
Der furchtlose Khudadad Khan verkörpert diese Geschichte. So wie König Georg V. vor hundert Jahren seinen Mut mit dem Victoria-Kreuz ehrte, so lasst uns alle ihn heute ehren und seiner gedenken"2 .  

Dies ist die Kurzfassung einer Pressemitteilung. Die längere Version ist hier abrufbar.
 


Im Rahmen des Story-Entwicklungsprozesses ermutigen wir die deutschen Kampagnenteams, mit denen wir im Narrative Change Lab zusammenarbeiten, Geschichten von Menschen zu identifizieren und zu berücksichtigen, die in den Zielsegmenten eine positive und freundliche Reaktion hervorrufen, und von Menschen, die die Botschaft verkörpern, die sie zu vermitteln versuchen.
 

Arbeite daran, die Geschichte so ansprechend wie möglich zu gestalten.

Viele Kampagnenmacher*innen und Interessenvertreter*innen haben in den letzten Jahren intensiv am Storytelling gearbeitet, die entsprechenden Ressourcen und Schulungen haben zahlreiche Erkenntnisse gebracht3 . Tatsächlich spielen Kreativität und Verspieltheit eine Rolle bei der Entwicklung von Geschichten, die nicht in schriftlichen Richtlinien erfasst werden können. Dennoch gibt es bestimmte Prinzipien und Strukturen, auf die sich Aktivist*innen stützen können. Geschichten brauchen einen so genannten "narrativen Bogen" mit folgenden Zutaten, wie in der Abbildung dargestellt: eine*n Protagonist*in, Spannung, die sich in der Geschichte aufbaut, um uns einzubeziehen, und schließlich eine Lösung und eine Lektion, die wir mitnehmen können.

Abbildung 1: Schlüsselelemente einer spannenden Geschichte


Die Khudadad Khan-Geschichte aus der Mohnblumen-Hijab-Kampagne besitzt diese Elemente zwar, illustriert aber eher, als dass sie auf dramatische Weise mit einbezieht. Der Kommunikationsexperte Andy Goodman4  (spezialisiert auf Storytelling) verwendet dieses Video der Troy Library in seiner Präsentation über Geschichten5  als Beispiel für eine gute Geschichte mit dramatischer Wirkung.

 

Diese Bewegung durch die Elemente des narrativen Bogens funktioniert gut im Falle der Geschichte der Troy Library; als Publikum wollen wir vor allem wissen, was am Ende passiert! Das ist der Effekt, nach dem Ihr sucht, und das ist es, was eine "fesselnde" Geschichte wirklich ausmacht. Die weltweit meistverkauften Buchgenres sind Krimis und Liebesromane. Obwohl wir alle wissen, was am Ende passieren wird, kaufen die Menschen sie immer noch. Es ist uns angeboren, von dieser Art erzählerischer Bögen fasziniert zu sein.


Wählt sorgfältig die Art der Geschichte, die Ihr erzählen wollt.

Verschiedene Arten von Geschichten fungieren als Auslöser für verschiedene Arten von Reaktionen. Die Geschichte „Held, Opfer, Schurke“ ist eine sehr verbreitete Art von Geschichte, die sich in der Politik und in Boulevardzeitungen finden lässt, in denen die Hauptfiguren jenen Rollen zugeordnet werden. Diese Art von Geschichte löst eine starke emotionale Reaktion aus, die zum Handeln aufruft6

Abbildung 2: Narrativbogen – Held-Opfer-Schurke 


Tatsächlich werden viele Anti-Migrant*innen-Geschichten nach diesem Erzähltypos festgelegt, mit Migrant*innen als Bösewichte, die aufnehmende Bevölkerung in der Rolle der Opfer und populistische Politiker*innen als Held*innen. Auch viele pro-migrantische Organisationen verwenden diesen Erzählansatz, bei dem sie Migrant*innen als Held*innen oder noch häufiger als Opfer umdeuten. Kampagnenmacher*innen und Interessenvertreter*innen sollten bei solchen Opfer-Frames vorsichtig sein, da viele Migrant*innen sich darüber beklagen, dass solche Geschichten die Art, wie Migration tatsächlich erlebt wird, oft sehr verkürzt wiedergeben7 . Wenn Ihr Euch dennoch für diesen Ansatz entscheidet, denkt daran, dass er einige starke Emotionen hervorrufen wird, wie auch relativ vorhersehbare Angriffe, in deren Rahmen versucht wird, Migrant*innen in ein negatives Licht zu rücken.
 
Geschichten mit angemesseneren Antworten werden oft um die "drei Ps" konstruiert: Politik, Prinzip und Personen – siehe Abbildung 3 unten. In diesem Ansatz versucht Ihr, eine menschliche Geschichte (Personen) mit dem Grund für etwas zu verbinden (Prinzip/Werte) und gebt dann eine spezifische Empfehlung (Politik)8 . In der Kampagne von HOPE not hate wurde grundsätzlich so argumentiert: Die bestehende muslimische Bevölkerung, die seit Jahren in der Stadt friedlich lebt und betet (Personen), sollte wie alle anderen Religionen Religionsausübungsfreiheit genießen (Prinzip) und daher die Erlaubnis erhalten, ein offizielles muslimisches Gebetszentrum einzurichten (Politik). Dies ist ein Erzählbogen, der alle Elemente der Kampagne miteinander verbindet und in der Tat auch eine nützliche Möglichkeit ist, um zu überlegen, ob Ihr auf Eure eigene Kampagnendiskussion vorbereitet seid.

Abbildung 3: Der Erzählbogen der drei Ps

 

CHECKLISTE FÜR DIE PLANUNG
Schritt 2.2 Geschichten
  • Welche Art von Geschichte könnt Ihr verwenden, um die Punkte, die Ihr rüberbringen wollt, zu verdeutlichen? Kommt Euch jemand, eine Organisation oder Gemeinschaft sofort in den Sinn?
  • Ist die Geschichte für das Publikum interessant? Beinhaltet sie ein dramatisches Element?
  • Glaubt Ihr, dass die Geschichte leicht nacherzählt werden kann?
  • Wollt Ihr eine eher emotionale Geschichte oder einen differenzierteren Ansatz?
  • Unterstützt die Geschichte Eure Botschaften effektiv?
  • Wie sind die Reaktionen auf Eure Geschichte außerhalb Eures Kampagnenteams?

 

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